Deutschland im Jahre 1367 – Ein Bauer holt die Ernte vom Feld. Mit knurrendem Magen beißt er in einen von Muttererde durchtränkten Kohlkopf. Ganz in der Nähe spielen und tollen seine Kinder. Durstig trinken sie aus dem nahegelegenen Bergbach. Im Haus der Familie bereitet seine Frau Fleisch über einer Feuerstelle zu, welches seit 2 Tagen in einer Holzkiste lagert. In etwa so könnte der Alltag und das durchschnittliche Essverhalten im Mittelalter ausgesehen haben. Ganz ohne Kühlschrank, Haushaltsreiniger mit Ultraglanzformel oder steril verpackt und verschweißten Lebensmitteln.
Vor wenigen 100 Jahren noch sah sich unser Immunsystem täglich krankmachenden Keimen ausgesetzt. Dank der Entwicklung in der Medizin und den modernen Hygienestandards haben wir eine Vielzahl potenzieller Krankheitserreger aus unserer Umgebung verbannt und erfreuen uns heute einer deutlich höheren Lebenserwartung. Doch diese Medaille könnte eine Kehrseite besitzen – was, wenn unserem Immunsystem sprichwörtlich langweilig wird?
Der IgE-Antikörper als Indikator eines veränderten Immunsystems?
Im Mittelalter noch war ein Befall mit Wurmparasiten, etwa durch den Verzehr verdorbenen Fleisches, weit verbreitet. Für die Abwehr solcher Parasiten setzt unser Organismus IgE-Antikörper ein. Kommt unser Immunsystem mit gesundheitlich unbedenklichen Stoffen aus der Umwelt in Kontakt, sind es wiederum diese IgE-Antikörper, welche übertriebene, allergische Abwehrreaktionen auslösen. Laut Robert Koch-Institut ist etwa ein Drittel der Deutschen von einer Allergie betroffen.1 Kann es Zufall sein, dass wir uns nur noch selten mit Parasiten aus der Nahrung herumplagen, mit jährlich fliegenden Pollen, Tierhaar oder versteckten Erdnussanteilen in Schokoriegeln jedoch umso mehr?
Epidemiologische Daten stützen die Hygiene-Hypothese
Die vor 30 Jahren ins Leben gerufene Hygiene-Hypothese dient als Erklärungsansatz für den drastischen Anstieg von Allergien, Autoimmun- und chronisch entzündlichen Erkrankungen, wie Heuschnupfen, Neurodermitis, Asthma, Morbus Crohn oder multiple Sklerose, in entwickelten Industrieländern im zurückliegenden Jahrhundert.2,3,4
Sie besagt, dass sich das Immunsystem im Zuge einer zunehmenden Sterilisierung unseres Lebensraumes fehlgeleitet entwickelt, da es während der frühkindlichen Prägung immer weniger Antigenen potenziell gesundheitsschädlicher Keime ausgesetzt ist. Der Rückgang an Infektionskrankheiten innerhalb einer Population führt demnach gleichzeitig zu einer Zunahme an immunologischen Erkrankungen. Neben dem deutlichen Unterschied in der Prävalenz solcher Erkrankungen im Vergleich zum geringen Vorkommen in Entwicklungsländern, wird die Hypothese durch verschiedene epidemiologische Beobachtungen gestützt. So konnte u.a. gezeigt werden, dass Kinder aus ländlichen Regionen weniger an Allergien und Asthma leiden als Stadtkinder.5 Eine im New England Journal of Medicine publizierte amerikanische Forschungsarbeit zeigte ähnliches anhand der isoliert lebenden und landwirtschaftlich geprägten Bevölkerungsgruppen der Amish und Hutterer. Kinder der im Gegensatz zu den traditionellen Amish auf hochindustrialisierte Landwirtschaft setzenden Hutterer erkranken vier bis sechsmal so häufig an Asthma.6
Neue immunmodulierende Therapien und die Stärkung des Mikrobioms als Lösung
Sicher reicht die Hygiene-Hypothese allein als Begründung nicht um die mittlerweile auf 5-8 % gestiegene Prävalenz von Autoimmunerkrankungen in den westlichen Industrieländern zu erklären. Entsprechend zeigt sich der Markt bei Allergien und der Behandlung autoimmuner Erkrankungen wie multiple Sklerose oder Morbus Crohn inzwischen hart umkämpft und es wird viel investiert in die Forschung und Entwicklung neuer immunmodulierender Therapieansätze. Zudem weisen viele Studien vermehrt auf den Zusammenhang des Erhalts einer mikrobiellen Diversität zur Stärkung und Stabilisierung des Immunsystems hin. Längst konnte gezeigt werden, dass Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Neurodermitis durch eine Schwächung des Mikrobioms im Darm und auf der Haut begünstigt werden, wodurch auch die Diskussion über den übermäßigen Einsatz von Antibiotika und die daraus resultierende Schwächung des Mikrobioms neu entfacht wurde.7 Eine Stärkung des Mikrobioms im Darm und auf der Haut wiederum, in etwa durch den Einsatz von Probiotika oder bestimmter bakterienhaltiger Cremes, konnte mit einer Stärkung des Immunsystems und der Vermeidung autoimmuner Erkrankungen in Verbindung gebracht werden.8,9 Die Gültigkeit der Hygiene-Hypothese und Bedeutung einer Konfrontation unseres Immunsystems mit Bakterien und andren Erregern angenommen bleibt eine Erkenntnis – im Freien spielende Kinder leben auf lange Sicht gesünder.
1 U. Langen, R. Schmitz, H. Steppuhn: Häufigkeit allergischer Erkrankungen in Deutschland – Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, 2013.
2 Strachan DP. Hay fever, hygiene, and household size. BMJ. 1989 Nov 18;299(6710):1259-60
3 Elston DM. The hygiene hypothesis and atopy: bring back the parasites? J Am Acad Dermatol. 2006 Jan;54(1):172-9
4 Lambrecht BN, Hammad H. The immunology of the allergy epidemic and the hygiene hypothesis. Nat Immunol. 2017 Sep 19;18(10):1076-1083
5 Braun-Fahrländer C, Lauener R. Farming and protective agents against allergy and asthma. Clin Exp Allergy 2003;33Ao9-411.
6 Stein MM, et al. Innate Immunity and Asthma Risk in Amish and Hutterite Farm Children. N Engl J Med. 2016 Aug 4;375(5):411-421.
7 Virta L, et al. Association of repeated exposure to antibiotics with the development of pediatric Crohn’s disease–a nationwide, register-based finnish case-control study. Am J Epidemiol. 2012 Apr 15;175(8):775-84
8 Khanna S, Raffals LE. The Microbiome in Crohn’s Disease: Role in Pathogenesis and Role of Microbiome Replacement Therapies. Gastroenterol Clin North Am. 2017 Sep;46(3):481-492
9 Nakatsuji T, et al. Antimicrobials from human skin commensal bacteria protect against Staphylococcus aureus and are deficient in atopic dermatitis. Sci Transl Med. 2017 Feb 22;9(378)
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